Geschichten aus dem Leben

Neujahrsblues

Ich steh auf und meine nackten Füße berühren die kalten Fließen. Ich sollte mir Socken anziehen, ich war doch erst erkältet und bin es genau genommen immer noch.

Ich mache mir einen Kaffee und schütte die erwärmte Reismilch dazu. Gehe auf die Terrasse und zünde mir eine Zigarette an. Beim ersten Zug fällt mir auf, dass ich mich ja eigentlich gesünder ernähren wollte. Egal. Nächster Zug. Meine nackten Füße werden in den löchrigen Schuhen immer kälter. Ich schaue auf den Grasstreifen neben der Terrasse und stelle mir das Hochbeet vor, dass ich letzten Sommer dort hin bauen wollte. Habe es nicht gemacht.. Ich denke an die Dinge, die ich mir heute vornehmen werde.

Die Ukulele, die ich mir so sehnlichst zum Geburtstag gewünscht hatte, liegt seit Oktober unberührt auf meinem Sessel und wartet darauf gespielt zu werden. Ich stelle mir vor, wie ich neue Lieder darauf lerne und meinen Freunden damit Geburtstagsständchen spiele. Dezember: Sie liegt immer noch unberührt auf meinem Sessel. Irgendwie war der Gedanke darauf zu spielen aufregender als es tatsächlich zu tun.

Ich asche die zur hälfte abgebrannte Zigarette ab. Wie immer asche ich neben den Aschenbecher.
Um ihn herum sammeln sich all die versagten Versuche, die eigentlich in ihn gehen sollten. Es sind ziemlich viele Versuche. Ich nehme einen weiteren Zug und male mir aus, was ich tun könnte, wenn ich den ganzen Tag Zeit hätte. Heute Abend gehe ich aber mit meinen Eltern essen und ich müsste schon den ganzen Tag frei haben, um diese Dinge wirklich zu tun. Es ist schließlich schon 12:15 Uhr und so schnell wie der Tag immer vergeht, werde ich all die Dinge ja gar nicht schaffen. Ich nehme den letzten Zug meiner Zigarette, unternehme einen weiteren Versuch nicht daneben zu aschen (vergeblich) und drücke die Zigarette aus. Ich schaue auf die neben mir liegende Straße und das Feld dahinter. Die Sonne lässt beides funkeln. Ein schöner Tag um spazieren zu gehen. Eigentlich.

Nachdem ich meine Kaffeetasse auf dem Tisch abgestellt habe, ziehe ich meinen Pullover aus und strecke mich. Duschen könnte ich auch mal wieder.. Mein Mitbewohner fragt mich, ob ich mit ihm joggen gehen wolle, ich winke lachend ab mit einem Satz dessen Unterton schon alles aussagt: Als ob ich heute tatsächlich produktiv werde!

Ich bewundere ihn. Er macht immer das was er sich vornimmt. Ich weiß nicht genau wie, aber er macht es einfach. Nachdem er seinen Kaffee getrunken hat, geht er direkt zu den Angelegenheiten über, die er heute erledigen will. Ohne eine Erwähnung, dass er eigentlich keine Lust darauf hat, ohne ein kleinstes Jammern. Ich im Gegensatz erzähle ständig von den Dingen, die ich so gerne machen würde und schwärme sogar von diesen. Drei mal dürft ihr raten, wie viele dieser Dinge ich tatsächlich in Angriff genommen habe… Richtig!

 Neujahrsvorsätze habe ich schon lange aufgegeben, weil “ ich mein Leben ja eigentlich gut so finde wie es läuft und ich es auf mich zukommen lassen will ohne es zu planen“. Aber wir alle wissen doch, warum wir diese Vorsätze schon vor einigen Jahren aufgegeben haben: Weil Keiner von uns sie tatsächlich durchziehen wird!

Mein Kaffee ist leer und ich schalte den Fernseher ein. Die nette, kaum mit Botox behandelte Dame von Punkt 12 moderiert einen Beitrag an, bei dem es um eine Umfrage über  Neujahrsvosätze geht und wie viele Menschen sie tatsächlich einhalten. Das Resultat der Umfrage könnt ihr euch ja denken. Aber es ist ziemlich befriedigend zu sehen, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. Befriedigend. Ein Wort, dass mich im Jahr 2020 schon mehr begleitet hat, als ich es mir vorgestellt hatte und mir schon jetzt mehr Hürden ins neue Jahr gelegt hat, als ich es ursprünglich wollte (näher gehe ich jetzt erst einmal nicht darauf ein).
Trotzdem muss ich erstmal diese Hürden überwinden, bevor ich die Lina sein kann, die ich mir immer vorstelle. In meinem Kopf bin ich eine unabhängige, inspirierende Frau die morgens eine Runde Yoga macht bevor sie zur Uni bzw. Arbeit geht. Dann mit viel Lust und Freude in den Tag startet. Immer fröhlich und freundlich. Sich nach der Arbeit mit Freunden trifft oder ein bisschen Ukulele übt. Hemmungslos feiern geht und sich für keinen Spaß zu schade ist. Dabei immer tanzend und schwebend durch die Welt gleitet. Inspirierend und sich gesund ernährend den Abend mit einem kleinen Ausflug ins Wunderland ausklingen lässt.

Stattdessen sitze ich immer noch zwischen Trieb und Vernunft fest. Mein kraterartiges Gesicht lässt von gesunder Ernährung nur so zu wünschen übrig und wann ich das letzte mal Yoga gemacht habe, weiß ich nicht einmal mehr.

Diese Person die ich sein will und die alles schafft was sie sich vornimmt in meinem Kopf auszuleben ist nun mal irgendwie einfacher als diese Person tatsächlich zu sein.

Und wenn ich ehrlich bin, dann ist das nicht nur im Neujahr so…

Mein Mitbewohner kommt vom Joggen zurück. Er duscht sich und schaltet den Computer ein, um zu arbeiten.
Ich stattdessen schenke mit gerade den zweiten Kaffee ein und versinke in der neusten Folge meiner Lieblingsserie voll uns ganz mit dem Versprechen an Netflix, mich den ganzen Tag ihm zu widmen.

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