Kurzgeschichten

Der Mensch wird erst durch das DU zum ICH

Ich bin 10 Jahre alt und gehe in die 5. Klasse.
 Auf ein Gymnasium. Ich weiß zwar nicht genau was das bedeutet, aber was ich weiß ist, dass ich dann mal einen besseren Abschluss als meine Freundin Miriam haben werde, weil sie nur auf der Realschule ist. Dabei versteh ich das gar nicht, denn eigentlich sind wir beide gleich schlau und könne auch beide das Selbe. Außer das Miriam etwas besser tanzen kann als ich. Aber sonst sind wir total gleich. Wieso sollte ich also einen besseren Abschluss bekommen?
Naja, die neue Schule ist total cool und ich hab auch schon viele Freunde gefunden. Die Jungs sind total doof. Die lachen immer mit anderen Mädchen und mich gucken sie total doof an.  Gestern, als ich in der großen Pause mein Vesper auspackte, sagte Florian: „ Du hast aber viel Essen dabei. Kein Wunder, dass du so fett bist!“ Aber ich reagierte nicht darauf, denn Mama hat mir beigebracht, dass man solche doofen Kommentare ignorieren muss, denn Leute die so etwas sagen sind selbst nicht besser. Also erwiderte ich: „ Dafür bin ich viel besser in Kunst als du“! , „ Und eingebildet bist du auch noch!“,  sagte Florian darauf. Ich weiß gar nicht was eingebildet heißt. Ich wollte ihm doch nur zeigen, dass es mir nichts ausmacht wenn er so gemein zu mir ist.
Heute weinte meine Freundin Carla im Unterricht weil Dennis mit ihr Schluss gemacht hatte. Da sie sehr laut weinte, bekamen es alle mit. Die Jungs, und auch ein paar Mädchen, fingen an zu lachen. Gerda, die dumme Kuh fing dann sogar an Carla mit Papierkügelchen zu bespucken. Ich mochte Gerda nicht. Sie schminkte sich schon und wollte immer bei allen Jungs sein. Und sie trug sogar schon einen BH. Das verstand nicht, sowas macht man doch nur, wenn man Busen hat.  So wie Mama. Als das Lachen immer schlimmer wurde und Carlas Weinen immer lauter, stand ich auf und schrie ganz laut, dass sie alle leise sein sollten und dass Carlas Leben sie doch gar nichts anging. Das tat gut. Carla konnte endlich aufhören zu weinen. Sie tat mir so leid, sie war schließlich meine Freundin und ich wollte nicht, dass sie weint. Und Mama sagte immer: „ Helfe den Schwächeren, denn du bist stärker als diejenigen die denken sie wären stark, nur weil sie andere mobben.“ Und „ Ein Lächeln ist das Wertvollste was ein Mensch besitzen kann.“ Deshalb freute es mich umso mehr, als Carla in der Pause wieder mit mir lachte.

Ich bin 12 Jahre alt und in der 7. Klasse.
 Gestern sind wir  ins Schullandheim an die Nordsee gefahren und weil unser Lehrer die Zimmer eingeteilt hat bin ich mit der dummen Gerda und ihrer noch dümmeren Freundin Lilli im Zimmer. Aber ich versuche das Beste daraus zu machen. Gestern Abend bekam ich mit wie Gerda Lillis Rippen bewunderte und Lilli ganz stolz sagte: „ Jetzt kann man sogar schon drei auf jeder Seite sehen.“  Wieso war es toll Knochen zu sehen. Naja, ich dachte mir nicht viel dabei. Als ich mich heute Morgen umzog  lief Gerda an mir vorbei stieß mir in den Bauch und sagte: „ Tja Elona, Leute wie Du bleiben eben für immer fett.“ Das verletzte mich sehr. Ich  bin doch gar nicht so fett, ich esse zwar gerne Schokolade, aber auch nur, wenn wir mal welche zuhause haben. Und das passiert nicht  oft.  Ich tat aber so als ob es mir nichts ausmachte und putzte  meine Zähne. Anschließend grinste ich mich selbst eine Minute lang im Spiegel an um trotzdem positiv in den Tag zu starten. „ Den Menschen den wir am meisten lieben sollten sind wir selbst, denn erst, wenn wir uns selbst lieben, können wir andere lieben.“, sagte Mama immer.
Doch genau in diesem Augenblick kamen Gerda und Lilli zurück ins Zimmer und kicherten höhnisch. „ Oh Gott, Elona! Du bist ja so eingebildet!“, schrie Lilli „ Und das obwohl du so fett bist“, fügte Gerda hinzu.
Ich verstand die Welt nicht mehr.

Ich bin 15 Jahre alt und in der  9. Klasse.
Beim Weihnachtsessen vor zwei Monaten hab ich meiner großen Cousine einen Lippenstift aus ihrer Kommode geklaut. Da ich Angst hatte erwischt zu werden, hab ich nur einen knallroten auf die Schnelle gefunden. Mir gefällt es wie er meine Lippen zur Geltung bringt.
Da ihm Carla auch gefiel lieh ich ihn ihr einmal aus. Sie trug ihn jedoch etwas zu dick auf. Als sie damit in die Schule kam lachten die Jungs sie aus und bezeichneten sie als Clown. Ich stellt mich vor Carla und verteidigte sie, doch dann sagte Paul: „ Ach halt doch deine Fresse Elona! Du tust immer so sozial, aber wir wissen doch alle, dass du es nur tust damit alle sehen können wie toll du doch bist!“ Wieso sagte er sowas? Carla war meine Freundin, es war doch klar, dass ich sie verteidigte.
Ich schaue seit drei Wochen auch diese Castingshow „Germany next Topmodel“ von der mir Carla erzählt hat. Die Mädchen dort sehen wirklich hübsch aus und die dürfen alle immer so tolle Kleider anziehen. Ich wünschte ich hätte auch so tolle Klamotten. Also kratze ich letzte Woche das restliche Weihnachtsgeld zusammen und ging in die Stadt. Im H&M fand ich einen schönen Rock und ein Top dass das Dekolleté  betonte. Ich dachte mir, dass das mit dem Puh-up BH den ich mir von Carla ausgeliehen hatte sicher gut aussehen würde und die Kandidatinnen bei „Germanys next Topmodel“ haben auch immer ein echt schön betontes Dekolleté. Doch als ich in die Umkleide ging fing  es an: Der Rock war viel zu eng und das Oberteil schmeichelte mir gar nicht. Ich schaute mich an. Ich musterte mich selbst von Kopf bis Fuß. Meine Beine waren schwabblig und voller Dellen, mein Bauch quoll über den Rock und unter dem Oberteil hervor. An meinen Armen spannten die Ärmel des Oberteils. Und meine Backen waren so dick, dass meine Wangenknochen gar nicht zu sehen waren. Sie hatten recht. Ich bin fett.
Ich schmiss die Kleider auf den Ständer der Umkleide und rannte aus dem Laden. Mir flossen die Tränen übers Gesicht. Sie hatten alle recht gehabt. Ich war eine fette Kuh! Ich rannte nach Hause und schloss mich in mein Zimmer ein. Ich kramte die Schokolade aus meiner Schublade und aß die ganze Tafel. Ich fühlte mich nutzlos und eklig.
Als die ganze Tafel verputzt war fühlte sie sich an wie ein Stein in meinem Magen. Ich bin wertlos.

Ich bin 16 Jahre alt und in der 10. Klasse.
Ich habe beschlossen es allen zu zeigen. Dann hab ich eben mehr auf den Rippen, mir doch egal! Ich esse so viel ich will, denn ich bin auch so schön und ich liebe mich. Das zeige ich jetzt nicht nur meinem Spiegel, sondern der ganzen Welt. Ich laufe immer mit einem Lachen herum. Meinen Kleiderschrank habe ich neu eingerichtet. Meine Klamotten sind jetzt betont an den richtigen Stellen, sexy und in der richtigen Größe.
Im Gegensatz zu Gerda, dieser dürren Schlampe, sieht an mir ein Dekolleté betontes Oberteil  wenigstens gut aus.
Da ich jetzt in der Oberstufe bin, hab ich auch einen neuen Mathelehrer der uns auf das Abitur vorbereiten soll. Er betont nach jeder Arbeit, die wir zurück bekommen, dass wenn wir kein Mathe können, nichts aus uns wird. Und dann guckt er uns immer mit diesem abwertenden Blick an der sagt: „ Du bist nichts Wert ohne gute Noten.“ Und jedes Mal fühlt es sich an, als ob er mit dem Blick nur mich meint. Und die Art und Weise, wie er mir meine Arbeiten zurück gibt, bestätigt mir genau das.  Dann klatscht er mir die Arbeit auf den Tisch, guckt mich mit genau diesem Blick an und sagt:  „ Hab von dir eh nichts anderes erwartet.“
Dann geh ich immer total deprimiert nach Hause. Es ist ja nichts so als ob ich nichts tun würde. Ich bekomm es aber nun mal einfach nicht besser hin. Wenn ich zuhause bin esse ich die doppelte Portion, im Gegensatz zu einem Tag an dem ich keine Mathearbeit zurück bekomme. Ich  esse und esse ohne darüber nachzudenken was ich überhaupt esse. Und anschließend noch einen Nachtisch. Ich kann mir das leisten und außerdem, ändere ich mich eh nie, also kann ich auch den Versuch etwas zu ändern direkt unterlassen.
Es ist etwas Zeit vergangen und es passiert jetzt nicht mehr nur nach Mathearbeiten, sondern auch nach jeder kleinsten Niederlage: wenn ich es nicht schaffe pünktlich aufzustehen, wenn mir etwas beim Tischabräumen herunterfällt, wenn ich wieder einen Fehlkauf gemacht habe und ein Kleidungsstück in einer zu kleinen Größe bestellt habe, obwohl ich jedes Mal schwören könnte, dass ich die gleiche Größe wie sonst auch angegeben habe oder wenn Carla wieder für ihre Schminkmissgeschicke gehänselt wird. Denn dann  sage ich nichts mehr, denn da alle nur denken, dass ich ihr nur helfe  um gut da zu stehen, kann ich es ja auch gleich lassen. Immer wenn so etwas passiert schließe ich mich in mein Zimmer ein, öffne meine geheime Schublade und esse alles was darin ist. Doch danach fühle ich mich nie gut, sondern immer wie ein schwerer Sack, den niemand gebrauchen kann. Naja eigentlich fühle ich mich genau so, wie mich mein Mathelehrer immer anguckt.
Doch was soll’s, dafür sehe ich gut aus und kann Klamotten tragen die sonst keinem stehen würden.

Ich bin 18 Jahre alt und habe mein Abitur.
In meinem Zeugnis steht im Fach Mathe eine 5. Ich fühle mich wertlos und ich weiß, dass ich das auch bin.
Am Abschlussball machte ich bei keiner  Präsentation die die Klassen vorführten  mit. Jegliche Klassenkameraden finde ich abstoßend und heuchlerisch und ich hatte wirklich kein Interesse daran mehr Kontakt mit Jemandem zu haben wie es in der Schulzeit nötig war. Carla guckte mich traurig an, als ich mich beim Gruppenfoto nicht neben sie stellte. Was will der kleine Clown eigentlich? Mit meinem heißen Kleid und meinem perfekt geschminkten Gesicht, zieh ich sowieso die ganze Aufmerksamkeit auf mich und hätte ich neben ihr gestanden, hätte man ihr noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt, wie sie sie sowieso schon bekam.
Wozu brauchte ich auch eine Freundin, wenn ich schließlich  1.376 Follower auf Instagram hatte?

Ich bin 35 Jahre alt.
Ich brauche niemanden. Ich bin wertlos. Ich brauche täglich zwei Tafeln Schokolade. Ich bin ICH.

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